Hand aufs Herz, kennen sie Ignazio Cassis ? Nein ? Herr Cassis ist seit erstem Januar Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft, unserem kleinen, aber feinen Nachbarstaat mit knapp neun Million Einwohnern und Platz zwei im “Human Development Index” der vereinten Nationen. Wenn sie ihn nicht kannten, muss sie das nicht grämen, viele Schweizer kennen ihn auch nicht, wissen aber umgekehrt durchaus, wer Markus Söder, unser aktueller Königsersatz in Bayern ist. Das ist durchaus bemerkenswert, und gibt Anlass über starke Männer in der Politik nachzudenken.
Dass viele Schweizer Ignazio Cassis nicht kennen, liegt daran, dass er als Bundespräsident [1] keine besonders herausragende Rolle hat. Er ist “primus inter pares” im siebenköpfigen Bundesrat, der die Schweizer Regierungsgeschäfte führt. Als solcher hat er den Vorsitz bei Bundesratssitzungen, vertritt die Schweiz in der UN-Vollversammlung und empfängt ausländische Staatsoberhäupter im Rahmen von Staatsbesuchen. Die Amtszeit beträgt ein Jahr, Herr Cassis wird im nächsten Januar turnusgemäß durch seinen Stellvertreter Alain Berset abgelöst werden. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft kennt weder ein Staatsoberhaupt noch einen Regierungschef, diese Funktionen werden vom gesamten Bundesrat als Kollegium wahrgenommen.
Anderswo bestimmen starke Männer die Tagespolitik. Kanzler Olaf Scholz, Ministerpräsident Markus Söder, der Präsident der Vereinigten Staaten Joe Biden oder aber der Präsident der russischen Föderation Wladimir Wladimirowitsch Putin. Wegen letzteren wurde ich vergangenen Donnerstag unsanft geweckt, als im Halbschlaf aus meinem Radiowecker die Worte
oh Mann, wie kann ein einzelner Verrückter nur soviel Unheil anrichten
Steffi Fischer in “Bayern3 Frühaufdreher”
blubberten.
Russland führt im Moment einen blutigen, völkerrechtswidrigen, und durch nichts zu rechtfertigenden Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Gründe dafür sind vielfältig. Wenn erst mal Krieg ist, läuft auf beiden Seiten die Propagandamaschinerie an. Auf russischer Seite ist von einer “Militäraktion” statt einem Krieg die Rede, es ginge nur darum “die ukrainischen Nazis zu entmachten” und “der russischen Bevölkerung zu ihrem Recht zu verhelfen”.
Wir haben auch unsere Kriegspropaganda. Deren wesentlichstes Element ist im Moment, den Krieg als Ein-Mann-Werk darzustellen und aus Putin einen durchgeknallten Diktator zu machen.
Mit durchgeknallten Diktatoren haben wir in Deutschland unsere eigenen Erfahrungen. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist bei uns irgendwie an dem Punkt hängen geblieben, selbigen als Werk eines offensichtlich verrückten Adolf Hitlers zu betrachten, der die arme, unschuldige Bevölkerung verführt hätte. Dass er überhaupt an die Macht gelangen konnte, lag nur an dem Fehlkonstrukt Weimarer Verfassung, jetzt haben wir unser hochgelobtes Grundgesetz, das uns durch diverse Rechtskonstrukte zuverlässig vor einer Wiederholung des Tausendjährigen Reichs bewahren wird. Über ebendieses Thema “Wie die die Weimarer Verfassung Hitler an die Macht verhalf” musste ich als Schüler einen Aufsatz schreiben. Als doppelter Nazi-Enkel habe ich diesbezüglich damals schon dem Grundgesetz misstraut, mir kamen die Engländer in den Sinn und die Frage, wie “diktatorenfreundlich” deren “Magna Carta Libertatum” von 1215 wohl wäre.
Sowohl Hitler als auch Putin wurden demokratisch in ihre Positionen gewählt und hatten beziehungsweise haben breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Hitler hat persönlich genauso wenig 6 Millionen Juden ermordet, wie Putin jetzt persönlich die Ukraine angegriffen hat. Das waren schon Deutschland und Russland, dahinter stehen Denkweisen, die sich historisch entwickelt haben und die man verstehen muss, um etwas zu ändern. Damit will ich weder den Holocaust noch den russischen Angriff auf die Ukraine ideologisch rechtfertigen, nur das Bild vom durchgeknallten Diktator stößt mir sauer auf, weil es grob vereinfacht, was nicht einfach ist.
Ich mag Herrn Putin nicht. Seinen Counterpart Bis-Zum-Letzten-Blutstropfen-Kämpfen Wolodymyr Selenskyj aber genausowenig.
In Bert Brechts Theaterstück “Leben des Galilei” schwört der dicke, bequeme, genußsüchtige Protagonist unter Androhung der Folter seiner These von der Sonne als Mittelpunkt des Universums ab. Jahre später wird er dafür von seinem Schüler Andrea Sarti zur Rede gestellt. Dessen Vorwürfe gipfeln in dem Satz
Unglücklich das Land, das keine Helden hat!
Andrea Sarti in Bert Brecht “Leben des Galilei”
Dem erwidert der inzwischen noch deutlich bräsiger gewordene Galileo Galilei
Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.
Galileo Galilei in Bert Brecht “Leben des Galilei”
Dieser Satz von Brecht hat mich mein Leben lang begleitet. Er lässt sich nahtlos von Helden auf starke Männer in der Politik übertragen. Solange die an der Macht sind wird sich keiner dauerhafter Friede einstellen.
Ich für meinen Teil möchte in einer Zivilgesellschaft leben, in der starke Männer unnötig geworden, in der Freiheit und Toleranz gegenüber Andersdenkenden selbstverständlich sind und das eigentliche Leben die Ideologien, ganz gleich welche, ersetzt.
Die Schweiz mit ihrem Herrn Cassis ist da schon nahe dran.
[1] Bundespräsident Schweiz
https://de.wikipedia.org/wiki/Bundespr%C3%A4sident_(Schweiz)
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