Warum ich gegen eine allgemeine Impfpflicht bin

Die Herren Söder und Kretschmann haben am 22.11 medienwirksam die Einführung einer Corona-Impfpflicht für “alle” gefordert. Was dabei “alle” heißen soll, blieb offen. Die Forderung ist populistisch, kommt zur Unzeit, riecht nach Aktionismus und wirft fundamentale ethische Fragen auf. Warum das so ist, kann ein dreifach-geimpfter Impfbefürworter einfach erklären.

Was die Impfung kann und was nicht

Die momentan verfügbaren Corona-Impfungen bieten wie jede Impfung Schutz gegen Infektion und gegen schwere Krankheitsverläufe. Beide Schutzwirkungen müssen getrennt betrachtet werden, da beide eine ganz andere Zielrichtung haben und vor allem quantitativ erheblich voneinander abweichen.

Der Schutz gegen Infektion

Eine kürzlich veröffentlichte Studie der schwedischen Universität Umeå [1] befasst sich mit der Frage, inwieweit Corona Impfungen mit den aktuellen Impfstoffen von Biontech, Moderna und AstraZeneca über einen Zeitraum von 9 Monaten nach vollständiger Impfung hinweg die symptomatische Infektion, schwere Verläufe und Todesfälle verhindern. Hierzu wurden Krankheitsdaten von rund 1,6 Millionen geimpften und ungeimpften Schweden ausgewertet. Das Ergebnis ist, was den Schutz vor Infektion angeht, eher ernüchternd. Der Schutz von Infektion sinkt für Biontech Geimpfte im Zeitraum von 121-180 Tagen auf 47%, für Moderna Geimpfte im gleichen Zeitraum auf 59%, für AstraZeneca Geimpfte besteht nach 120 Tagen kein nachweisbarer Impfschutz mehr.

Zum Studienergebnis muss man sagen, dass der Effekt des Abnehmens der Schutzwirkung überlagert wird von der zunehmenden Ausbreitung der Delta-Variante, die Ende Juni in Deutschland rund 60% und mittlerweile beinahe 100% erreicht. Ohne Delta-Variante hätte die Schutzwirkung wahrscheinlich langsamer abgenommen.

“Hätte” zählt aber nicht. Wir haben keine aktuelleren Impfstoffe und dürfen davon ausgehen, dass die mittlere Schutzwirkung der Impfungen gegen Infektion irgendwo zwischen 50 und 70% liegt. Wenn wir 60% annehmen, sind bei einer Impfquote von 70% rund die Hälfte der Neuinfizierten geimpft. Warum das so ist, habe ich in diesem Blog bereits ausführlich erläutert, die dort im Anhang zu findende Grafik zeigt den mathematischen Zusammenhang zwischen dem Anteil geimpfter Infizierter und Impfquote für verschiedenen Impfstoffwirksamkeiten

Nun sind Geimpfte im Mittel wohl kürzer ansteckend als Ungeimpfte, ob sie weniger Viruslast übertragen ist strittig. Weil aber Ungeimpfte überall dort, wo 2G Regelungen praktiziert werden, ausgeschlossen werden, während sich Geimpfte munter auch in Massenveranstaltungen weitgehend frei bewegen dürfen, ist es zwar angesichts der aktuellen öffentlichen Meinung ketzerisch, aber statistisch betrachtet wohl richtig, dass Corona bereits jetzt hauptsächlich von Geimpften übertragen und verbreitet wird. Das muss irgendwann kommen und spricht nicht per se gegen die Impfung. Mit steigender Impfquote steigt prinzipbedingt der Anteil der Geimpften an den Infektionsübertragungen, bei einer überaus erfolgreichen Impfkampagne mit 100% Impfquote würden Infektionen ausschließlich von Geimpften übertragen. Das geht nicht schlagartig, sondern allmählich, so wie in obiger Grafik veranschaulicht.

Die Delta-Variante des Corona-Virus ist hochansteckend, ein Infizierter steckt im Mittel rund 7 weitere an. Wenn wir also aktuell durch irgendwelche fiktiven Maßnahmen alle Ungeimpften aus der Übertragungskette nehmen, drittelt das die Anzahl der Übertragungen nur, wir müssten aber 6 von 7 Übertragungen verhindern um das aktuell beobachtbare Ansteigen der Infektionszahlen zu stoppen. Das Fazit ist einfach

Die aktuellen Impfungen sind unabhängig von der Impfquote nicht geeignet, eine laufende Corona Welle zum Erliegen zu bringen

Das ist schade und widerspricht den ursprünglichen Erwartungen. Zu Beginn der Impfkampagne wurde euphorisch Herdenimmunität bei Erreichen von 70% Impfquote prognostiziert. Diese ist nicht eingetreten und inzwischen nach Meinung vieler Fachleute prinzipiell unmöglich.

Sehr schön erläutert wird dies auch von Sarah Wagenknecht in ihrem YouTube Beitrag “2G und Impfpflicht? Wie die Politik die Realität ausblendet” [2] während Herr Söder und Herr Kretschmann [3] weiterhin behaupten, die Impfung hätte das Potential zum Wellenbrecher. Herr Söder spricht sogar von “nur 0.5% Impfdurchbrüchen” und suggeriert damit, die Impfungen wären gegen Infektion weiterhin hochwirksam, was allen bekannten Tatsachen widerspricht.

Der Schutz gegen schwere Erkrankung

Die oben zitierte schwedische Studie macht auch Aussagen zum Schutz der Impfung gegen schwere Erkrankung. Dieser liegt erfreulicherweise erheblich höher als der Schutz vor Infektion, scheint aber für Risikogruppen, insbesondere ältere, gebrechliche Personen und vor allem Männer schneller abzunehmen, als erwartet.

Für absolute Zahlen müssen wir gar nicht die Studie bemühen. Setzt man (wie üblich) schwere Erkrankung mit Hospitalisierung gleich, liegt der Schutz gegen selbige in Bayern aktuell bei 75-85%. Dies ergibt sich aus den öffentlich zugänglichen aktuellen LGL Zahlen zur Hospitalisierungsinzidenz und wurde ausführlich hier [4] erläutert.
Die Booster-Impfungen werden den Schutz sicher verbessern, das Fazit ist

Die aktuellen Impfungen sind gut geeignet, Hospitalisierungen zu verhindern und tun dies bereits in erheblichem Maße

Damit haben Impfungen durchaus das Potential, die gefürchteter Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Wer daraus eine allgemeine Impfpflicht ableiten will, vernachlässigt jedoch einen ganz wesentlichen Aspekt:

Corona Todesfälle in Bayern nach Alters- und Geschlechtsverteilung [5]

Aufgetragen sind die Corona bedingten Todesfälle nach Alter und Geschlecht, für das folgende Argument nötig wären die Hospitalisierungsanzahlen. Diese dürften jedoch qualitativ nicht wesentlich abweichen.

Corona tötet sehr selektiv ältere Menschen. Der Anteil der unter 35jährigen ist vernachlässigbar, damit sicher auch deren Anteil an einer möglichen Überlastung des Gesundheitswesens. Ja, es gibt sicher Dreißigjährige, die mit Corona auf der Intensivstation landen und sterben, genau wie es Hundertjährige gibt, die Corona ohne Krankenhausaufenthalt schadlos überstehen. Das sind aber dann beides Einzelschicksale ohne statistische Relevanz.

Auch einem 40jährigen würde ich dringend zu einer Impfung raten, er reduziert sein persönliches Gesundheitsrisiko nach aktuellem Erkenntnisstand damit erheblich. Wenn er aber nicht will, dann sei ihm das gegönnt. Zur Hospitalisierungsquote trägt er auch als Ungeimpfter nur geringfügig bei.

Die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht schert damit unnötigerweise alle über einen Kamm.

Argumente gegen eine allgemeine Impfpflicht

Die Forderung kommt zur Unzeit

Eine allgemeine Impfpflicht beschlossen im Juli dieses Jahres hätte die aktuelle Situation in deutschen Krankenhäusern im Nachhinein betrachtet mit ziemlicher Sicherheit verhindert. Das ist so, auch wenn Impfgegner das nicht hören wollen. Sie wurde aber damals von allen Seiten, auch von Herrn Söder und Herrn Kretschmann, kategorisch ausgeschlossen.

Bis aber eine jetzt eingeführte Impfpflicht Wirkung zeigt, dürften durch Gesetzgebungsverfahren, öffentliche Proteste, Fristen, mögliches Impftempo und den Zeitraum bis zur medizinischen Wirkung der Impfung mindestens zwei bis drei Monate vergehen. Eine Impfpflicht löst damit akut keine Probleme.

Ob sie zukünftig Probleme löst und wie lange dann, wissen wir ehrlich gesagt nicht. Das wird davon abhängen, welche Impfstoffe neu auf den Markt kommen, welchen Einfluss die neue Omikron-Variante auf die Impfwirkung hat, wieviele Impfungen die Impfpflicht vorsieht (zwei, drei oder regelmäßiges Nachimpfen) und vor allem vom Zeitpunkt der nächsten Corona Welle, die Impfwirkung lässt ja im Lauf der Zeit nach. Niemand kann das alles im Moment auch nur annähernd treffsicher vorhersagen.

Freiheit ist ein hohes Gut

Eine Impfpflicht stellt einen massiven Eingriff in die Selbstbestimmung Impfunwilliger über ihre Gesundheit und ihren eigenen Körper dar. Ein derartiger Eingriff mag in Einzelfällen legitim sein, er muss jedoch optimiert und “minimalinvasiv” erfolgen in dem Sinne, dass ein maximaler Effekt bei möglichst wenig Eingriff in Freiheitsrechte erfolgt. Eine allgemeine Impfpflicht verletzt dieses Prinzip massiv.

Wie oben dargelegt, hat eine allgemeine Impfpflicht entgegen mancher politischer Aussagen nicht das Potential, die Verbreitung von Corona dauerhaft einzudämmen. Die Zwangsimpfung jüngerer Jahrgänge wiederum hat kaum Potential, den Kollaps des Gesundheitssystems abzuwenden.

  • Denkbar wäre eine Impfpflicht für Ältere, wo man hier die Altersgrenze setzt, müsste diskutiert werden, sicher auch eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wie beispielsweise Pflegekräfte.
  • Eine Impfpflicht für Kinder und Jugendliche wäre in meinen Augen ein Unding und nicht zu rechtfertigen.
  • Eine wie immer geartetete Impfpflicht dürfte auch nicht zum Fass ohne Boden werden. Zweimal impfen, dreimal impfen, jährlich oder gar halbjährlich wieder impfen ? Ich sehe mich spätestens beim dritten oder vierten halbjährigen Booster auch auf der Seite der Verweigerer stehen.

Eine allgemeine Impfpflicht gibt es im Moment meinem Kenntnisstand nach in den großen demokratischen Nationen

  • Turkmenistan
  • Tadschikistan
  • Vatikan

und demnächst möglicherweise auch im Heimatland des bekannten Basisdemokraten Adolf Hitler.

Ihre Einführung würde unsere dank Corona ohnehin zutiefst gespaltene Gesellschaft weiter spalten.
Das ist der zu erwartende Erfolg nicht wert, lassen wir lieber den hartnäckigen Impfgegnern Zeit, auf die angekündigten Totimpfstoffe zu warten. Nicht alle Argumente gegen MRNA Impfstoffe sind an den Haaren herbeigezogen und angesichts der bisher erreichten Schutzwirkung, die weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückbleibt, sollte wirklich jeder für sich selbst entscheiden dürfen.

Ein unerwartetes ethisches Dilemma

Eine allgemeine Impfpflicht wirft ein ethisches Dilemma auf, das bislang öffentlich nicht diskutiert wurde. Es gibt unbestritten Impftote. Das Paul-Ehrlich-Institut nennt deren Anzahl im aktuellen Monatsbericht [6] nicht, gibt sie jedoch gegenüber der Berliner Zeitung [7] auf Nachfrage mit 73 an. Impfgegner werden sagen, diese Zahl wäre deutlich zu niedrig angesetzt, ich bin mir zumindest sicher, dass sie nicht zu hoch angesetzt ist, weil im PEI vernünftige Leute sitzen. Angesichts rund 100 Millionen Impfdosen sind 73 Todesfälle sehr wenig, das Risiko, die Corona Impfung nicht zu überleben, ist kleiner als 1 : 1 000 000.

Wenn nun aber im Rahmen einer allgemeinen Impfpflicht zusätzliche 24 Millionen Bürger doppelt geimpft werden sollen, werden 30-40 Menschen zusätzlich an der Impfung sterben. Das ist keine Schwarzmalerei, sondern wird einfach statistisch so sein. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist eine junge Mutter darunter, die waren bisher relativ empfänglich für schwere Impfschäden. Hätte sich diese selbst zur Impfung entschieden, hätte sie ein sehr, sehr kleines Risiko freiwillig auf sich genommen. In Fall einer Impfpflicht muss die Bewertung differenzierter aussehen.

Vor meinem geistigen Auge taucht ein Bild eines Sarges auf, davor zwei weinende Kinder und darüber die Titelschlagzeile

Herr Söder, warum hast du unsere Mutter getötet ?

Die korrekte Antwort wäre “Weil ich dadurch viele andere retten konnte”.
Viele bedeutet dabei irgendetwas zwischen 30000 und 100000.
Um diese Antwort zu geben, braucht man Rückgrat.

Das ethische Dilemma dahinter ist altbekannt und ein Lehrbuchbeispiel für den Unterschied zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Ferdinand von Schirach hat es in seinem Theaterstück “Terror” thematisiert.
Angenommen ein entführtes Flugzeug mit 30 unschuldigen Passagieren rast auf eine Chemiefabrik zu und droht bei Absturz auf selbige 30000-100000 benachbarte Einwohner zu töten, ist es dann ethisch verantwortbar, das Flugzeug rechtzeitig abzuschießen und damit zwar dessen Passagiere zu töten, im Gegenzug aber die Einwohner zu retten.

Die Zahlen im Flugzeugbeispiel sind bewusst gewählt. Ein wichtiger Unterschied zur allgemeinen Impfpflicht ist, dass hier ein guter Teil der Einwohner aus freiem Willen explizit nicht gerettet werden will. Nicht alle wohlgemerkt.
Die Entscheidung ist nicht einfach zu treffen und braucht definitiv Rückgrat. Mehr, als ich Herrn Söder und Herrn Kretschmann zusammen zutraue. Die würden den Kindern sagen, der Tod der Mutter wäre nicht vorhersehbar gewesen. Ist er aber.

Fazit

Die öffentliche Diskussion über Impfpflicht ist im Moment von Ideologien geprägt. Auf der einen Seite die Impfbefürworter, die unkritisch und entgegen bekannter Fakten die Impfungen viel besser darstellen, als sie sind und jetzt populistisch die Impfpflicht als alleinigen Ausweg aus der Krise anpreisen. Auf der anderen Seite radikale Impfgegner die der Impfung aufgrund ihrer nicht 100%igen Wirksamkeit jegliche Wirkung absprechen und unhaltbare Verschwörungstheorien verbreiten.

Beide Seiten sind genervt und krisenmüde.
Dazu beigetragen haben nicht zuletzt Aussagen von Politikern wie Herrn Söder. Der meinte im April 2020, wir wären in der 80ten Minute eines Fußballspiels und es dürften doch nicht einfach alle vom Platz gehen. Demnach sind wir jetzt in der 900sten Minute desselben Fußballspiels, immer noch weit vom Abpfiff entfernt und Herr Söder wirkt in dem, was er fordert, sicherer denn je, aller vergangenen Irrtümer und Fehlentscheidungen zum Trotz. Als er ganz am Anfang der Pandemie immer wieder betont hat, wir würden nur “auf Sicht fahren” gefiel er mir besser.


[1] Peter Nordström, Marcel Ballin et al., “Effectiveness of Covid-19 Vaccination Against Risk of Symptomatic Infection, Hospitalization, and Death Up to 9 Months: A Swedish Total-Population Cohort Study”
https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3949410

[2] Sarah Wagenknecht “2G und Impfpflicht? Wie die Politik die Realität ausblendet”
https://www.youtube.com/watch?v=kyUaDbVjMr0&t=858s

[3] Winfried Kretschmann und Markus Söder zu einer möglichen Corona-Impfpflicht am 22.11.21
https://www.youtube.com/watch?v=5VFTtR7e2yE

[4] Die Pandemie der Geimpften https://juere.de/2021/11/14/die-pandemie-der-geimpften/
Der Schutz vor Hospitalisierungen muss prinzipbedingt höher liegen, als der vor Infektion, dies war auch in allen Zulassungsstudien so. Mit 75-85% Schutz vor Hospitalisierung ist nicht mehr als die im vorherigen Absatz genannten 60% Schutz gegen Infektion zu erwarten

[5] LGL Coronavirus-Infektionszahlen in Bayern
https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/infektionsschutz/infektionskrankheiten_a_z/coronavirus/karte_coronavirus/index.htm#tote_geschlecht

[6] PEI “Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen nach Impfung zum Schutz vor COVID-19 seit Beginn der Impfkampagne am 27.12.2020 bis zum 30.09.2021”
https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/newsroom/dossiers/sicherheitsberichte/sicherheitsbericht-27-12-20-bis-30-09-21.pdf?__blob=publicationFile

[7] Berliner Zeitung “Paul-Ehrlich-Institut: 73 Todesfälle wahrscheinlich durch Corona-Impfung”
https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/paul-ehrlich-institut-73-todesfaelle-wahrscheinlich-durch-corona-impfung-li.194847?pid=true


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