Die abergläubische Ratte

Ich lese ungern Sachbücher und bin wohl eher der Roman-Typ. Ein Sachbuch, dass ich dennoch immer wieder in die Hand nehme, ist “Wie wirklich ist die Wirklichkeit”[1] von Paul Watzlawick, dem brillanten österreichischen Philosophen, Psychotherapeuten und Kommunikationstheoretiker. Darin erwähnt er das Experiment mit der abergläubischen Ratte als eines von vielen anschaulichen Beispielen, die aufzeigen sollen, wie Wirklichkeit erst durch Kommunikation entsteht.

Bei der “Abergläubischen Ratte” handelt es sich um ein ganz reales Experiment aus der Verhaltenspsychologie [2]. Kein philosophisches Gedankenexperiment also, wie Schrödingers Katze, die meiner Erfahrung mit Katzen nach primär ziemlich wütend sein dürfte, wenn endlich jemand die Kiste öffnet. Nein, mit einer echten, leibhaftigen Ratte als Versuchstier. Keine Angst, der Ratte passiert nichts, sie wird sogar gefüttert.

Brehms Thierleben – Die Wanderratte (Mus decumanus)

Stellen wir uns eine rechteckige Laufbahn vor. An deren eines Ende setzen wir eine hungrige Ratte, am anderen Ende befindet sich ein elektronisch gesteuerter Futtertrog. Wenn eine durchschnittlich fitte Ratte schnurstracks zum Futtertrog läuft , braucht sie hierfür zwei Sekunden. Der Futtertrog öffnet sich aber nur, wenn die durch Lichtschranken gemessene Laufzeit zwischen vier und fünf Sekunden beträgt. Um gefüttert zu werden, muss die Ratte unterwegs also trödeln.

Das Experiment zeigt zwei Ergebnisse:

  • Die Ratten lernen für gewöhnlich relativ schnell, ans begehrte Futter zu kommen.
    Das allein schon fand ich immer erstaunlich.
  • Jede Ratte trödelt anders. Manche laufen Zickzack, manche schlagen unterwegs Purzelbäume, manche bleiben in der Mitte kurz stehen, machen Männchen und gucken einmal empört in die Runde. Sobald das jeweilige Verhalten zum Ziel führt, lernt die Ratte ihre eigene Art zu trödeln und bleibt dabei. Die Purzelbaumratte probiert also nicht auch mal den Zickzacklauf.

Damit wird die Ratte sozusagen abergläubisch. Sie meint, ihr ganz konkretes Verhalten würde zur Öffnung der Futterkiste führen, meint, selbige ginge auf weil sie Purzelbäume geschlagen hat. Dadurch entsteht eine Kausalkette, die in Hinblick auf die Wirkung durchaus funktioniert (die Futterkiste geht ja auf), aber die Ursache ist eben keine, weil die Ratte das eigentlich ursächliche Konzept des Trödelns nicht erkennt. Ein Mathematiker würde sagen, die Purzelbäume sind hinreichend, aber nicht notwendig für das Öffnen der Futterkiste und hierfür einen verständnislosen Blick der Ratte ernten.

Menschen reagieren oft nicht anders. Die Wurzel des Übels ist die urmenschliche Neigung, eine einmal aufgestellte Theorie nicht in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil versucht man diese wieder und wieder zu bestätigen. Purzelbaum um Purzelbaum, und siehe da, es gibt Futter. Klappt doch. Homöopathen wissen, wovon ich rede. Werde ich nach geduldiger Einnahme meiner Globuli gesund, ist das ein Beweis für deren Wirkung. Werde ich kränker, ist das nur eine Initialverschlimmerung und damit ebenfalls Wirksamkeitsbeweis genug.

Warum denke ich gerade jetzt in Corona Zeiten so häufig an die abergläubische Ratte ?
Weil es so oft um Kausalketten geht. Weil im ausgerufenen Kriegszustand Theorien zu Ideologien werden, die nicht in Frage gestellt werden dürfen. Weil sowohl die Ängstlichen als auch die Sorglosen jeweils ihre eigenen, völlig gegensätzlichen Theorien aufstellen, und immer nur darauf aus sind, selbige zu belegen, statt sie in Frage zu stellen.

Wissenschaftler sind auch Menschen. Sie haben aber kraft Ausbildung gelernt, wie man mit Theorien umgeht. Diese müssen widerlegbar (“falsifizierbar” [3]) sein, sonst haben sie keine Existenzberechtigung. Man beweist seine Theorie auch nicht, sondern versucht im Gegenteil, selbige zu widerlegen. Je hartnäckiger das misslingt, umso besser die Theorie. Was immer am Ende übrig bleibt, darf vorläufig als wahr gelten. In diesem Vorgehen steckt menschlich gesprochen eine gewisse Bescheidenheit und damit Größe.

Genau diese Herangehensweise vermisse ich in der aktuellen Situation schmerzlich.
Nicht bei Wissenschaftlern, die machen das schon richtig, aber bei denjenigen, die Entscheidungen treffen.
Die benehmen sich wie abergläubische Ratten, die einen Purzelbaum nach dem anderen schlagen.


[1] Paul Watzlawick “Wie wirklich ist die Wirklichkeit?: Wahn, Täuschung, Verstehen” Piper Taschenbuch 19. Auflage 2005 ISBN-10 3492243193

[2] Nichtdeterministisches Experiment https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtdeterministisches_Experiment

[3] Falsifizierbarkeit https://de.wikipedia.org/wiki/Falsifikationismus#Falsifizierbarkeit


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