Nachdem über die “Pandemie der Ungeimpften” genügend geschrieben wurde und ein Herr Blome kürzlich im Spiegel laut und gehässig über die “Geiselhaft”, in die uns die Ungeimpften nähmen, gepoltert hat, denke ich als geimpfter Impfbefürworter selbstkritisch über meine eigene Rolle in diesem traurigen Spiel nach. Was wäre also, wenn wir das vom RKI ausgegebene Impfziel erreicht hätten ? Entgegen landläufiger Meinung wäre die Situation nicht grundlegend anders.
Aus den aktuellen bayrischen LGL Zahlen [1], in diesem Fall den gelb markierten
ergibt sich eine Wirksamkeit der Impfung gegen schwere Erkrankungen von
\[s_s=\ 1\ -\ \frac{2.5}{12.8}\ =\ 80\%\]Wie sich das berechnet und warum diese Zahlen verlässlich sind, wurde bereits in diesem Blog erläutert. Das ist besser als die 74% der letzten Woche, liegt aber im über die letzten Wochen beobachteten Schwankungsbereich. Damit dürfte weiterhin die Wirksamkeit der Impfung gegen Infektion kaum über 60% hinausgehen.
Die resultierende Gesamtinzidenz der Krankenhauseinweisungen berechnet sich unter Heranziehung der Impfquote damit als
\[2.5 \cdot 0.654 + 12.8 \cdot \left(1 – 0.654 \right)\ =\ 6.1\]und liegt unter der vom LGL (blau markiert) angegebenen Gesamtinzidenz von 7.6. Dies erklärt sich aus den Fußnoten, die blaue Zahl stammt vom 13.11, die beiden gelben vom 10.11 und die Inzidenzen sind aktuell stark steigend. Der Anteil der ins Krankenhaus eingewiesenen Geimpften berechnet sich als
\[\frac{2.5 \cdot 0.654}{2.5 \cdot 0.654 + 12.8 \cdot \left(1 – 0.654 \right)}\ =\ 27\%\]Dieser ist unter der Annahme, dass vorwiegend ältere Menschen hospitalisiert werden und unter diesen eine höhere Impfquote vorliegt, wahrscheinlich sogar zu niedrig angesetzt.
Das alles ist zunächst einmal gut und zeigt, dass die Impfungen wirken, geeignet sind, die Hospitalisierungsrate deutlich zu senken und das bereits jetzt tun.
Im Epidemologischen Bulletin 27/2021 [2] vom 08.07.2021 hat das RKI sich mit der Frage
Welche Impfquote ist notwendig, um COVID-19 zu kontrollieren?
befasst. Das Ergebnis war, eine Impfquote von 85% der 12-59jährigen sowie >90% der über 60jährigen zu fordern, was aktuell meinem Kenntnisstand nach immer noch als Impfziel gilt. Für die Gesamtbevölkerung resultiert daraus eine Impfquote von etwa 77%.
Die Impfquote verändert prinzipbedingt die Wirksamkeit der Impfung nicht. Mit 77% Impfquote kämen wir dann mit obigen LGL Inzidenzen auf eine Gesamtinzidenz von
\[2.5 \cdot 0.77 + 12.8 \cdot \left(1 – 0.77 \right)\ =\ 5.4\]bei einem Geimpften-Anteil von 36%. Das wären zwar rund 10% weniger als jetzt und die Rechnung ist wackelig, weil sie nur die Gesamtimpfquote und nicht die vom RKI geforderte Altersverteilung berücksichtigt. Weiterhin würde eine höhere Impfquote die Ausbreitung von Infektionen sicher eindämmen, wir wären aber mit 77% definitiv wie hier vorgerechnet in einer Region, in der Neuinfektionen bei der aktuellen Impfwirksamkeit zu mehr als 50% Geimpfte beträfen und damit auch von diesen in erheblichem Maße weitergegeben würden. Reichen würde es in der gegenwärtigen Situation wohl nicht, was man aktuell auch in Dänemark beobachten kann.
Anders ausgedrückt: Durch die Impfungen haben wir mit obigen Zahlen (12.8 = 100%) die Hospitalisierungen bereits auf 48% gedrückt (was gut ist), mit Erreichen des aktuellen Impfziels kämen wir auf 42% (was mundartlich gesprochen “das Kraut nicht fett macht”) und weniger als 20% (was wahrscheinlich im Sinne einer Kontrolle der Pandemie immer noch zu viel ist) ist auch bei 100% Impfquote aufgrund der Impfstoffwirksamkeit aktuell nicht drin.
Zu Beginn der Impfkampagne wurde der Schutz gegen schwere Erkrankungen mit deutlich über 90% angegeben, damit erkranken aktuell 2-10 mal mehr Geimpfte schwer, als vor einem Jahr erwartet.
Das Fazit ist
Die Impfstoffwirksamkeit ist aktuell zu schlecht, um COVID-19 kontrollieren zu können
Das ist nicht die erste Fehleinschätzung. Zu Beginn der Impfkampagne wurde davon ausgegangen mit 70% Impfquote wäre Herdenimmunität möglich. Die liegt inzwischen in weiter Ferne und ist nach Meinung vieler Experten prinzipbedingt gar nicht erreichbar. Es liegt mir fern, irgendjemand wegen falscher Prognosen zu kritisieren, die Materie ist komplex und volatil. Ich selbst bin kein Experte, kann aber rechnen.
Was ich hier aufzeige soll kein Wasser auf die Mühlen radikaler Impfgegner sein. Die Impfungen wirken und sind wohl nach aktuellem Stand die beste Chance auf schnelle Rückkehr zur Normalität. Die obige Erkenntnis sollte aber Konsequenzen haben:
- Man sollte laut sagen dürfen, was Sache ist und dies auch tun, soviel Ehrlichkeit muss sein.
Corona ist ein komplexes Problem und für komplexe Probleme gibt es höchst selten einfache Lösungen.
Die von politischer Seite propagierten einfachen Lösungen haben mittlerweile zu einer Spaltung der Gesellschaft geführt, die mehr Schaden anrichtet als Corona. Funktioniert haben sie bislang nicht.
Die “Impffrage” ist zur Ideologie geworden und hat polarisiert, mit vielen Falschinformationen auf beiden Seiten.
Ideologien richten gerne Unheil an. Bei Lesen des oben zitierten Spiegel Kommentars ist mir wirklich übel geworden. - Die Wirksamkeit der Impfung muss verbessert werden.
Die Boosterimpfungen sind hierzu sicher ein vielversprechender Ansatz.
Ich selbst werde mich Booster-Impfen lassen. Aus ganz egoistischen Erwägungen, ohne damit irgendeine soziale Verpflichtung erfüllen zu wollen. Ob dass dann hilft, werde ich sehen, es hängt sicher davon ab, welche Virusvariante nach der aktuellen Delta-Variante kommt. Nach zwei falschen Prognosen, welche Impfquote Corona unter Kontrolle bringt, sehe ich aktuell keine große Notwendigkeit einer dritten. Wir werden sehen. - 2G alleine ist kein Ausweg, der von Österreich beschlossene Lockdown für Ungeimpfte schon gar nicht.
Infektionen werden sich allein durch Geimpfte weiter munter in einem Maße ausbreiten, der die Stabilität des Gesundheitssystems gefährdet.
- 2G+ macht durchaus Sinn, es gibt aber außer dem “pädagogischen” Aspekt, damit die Impfquote weiter zu steigern, keine Rechtfertigung, getestete Ungeimpfte in ihrer Freiheit zu beschneiden. Dieser pädagogische Aspekt rechtfertigt die Freiheitseinschränkungen für Ungeimpfte in meinem Verständnis von Staat und Gesellschaft in keinster Weise.
- Impfen ist nicht der einzige Weg zur Immunität, eine Erkrankung tut’s schon auch.
Das klingt zunächst einmal zynisch, insbesondere für Ältere ist dieser Weg riskant und gefährlich.
Dennoch trägt jeder Genesene genau wie der Geimpfte zur Kontrolle bei.
Ein im April an einer Infektion mit Delta-Variante Genesener hat aller Wahrscheinlichkeit nach eine deutlich höhere Immunität als ein zum gleichen Zeitpunkt mit BIONTECH gegen die ursprüngliche (inzwischen ausgestorbene) Corona Variante Geimpfter. Dennoch ist sein Genesenenstatus inzwischen abgelaufen, während der Impfpass noch 6 Monate lang gilt. Dieser Sachverhalt ist angesichts Zugangsbeschränkungen unsinnig und ungerecht.
Ganz alleine stehe ich mit obiger Einschätzung beruhigenderweise nicht, Christian Drosten äußert sich in seinem jüngsten Zeit Interview [3] ähnlich
…
Christian Drosten “Ich hoffe, dass man nicht wieder Schulen schließt” – Zeit Online 10.11.2021
Drosten: Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie. Und wir haben Menschen, die noch sehr gefährdet sind, die älteren Ungeimpften. Bei den über 60-Jährigen haben wir nur eine Impfquote von 86 Prozent vollständig Geimpfter, das ist irrsinnig, das ist wirklich gefährlich.
ZEIT: Aber warum haben wir keine Pandemie der Ungeimpften? Auf den Intensivstationen – auch bei Ihnen in der Charité – liegen doch gerade die.
Drosten: Wer nicht geimpft ist, infiziert sich mit seinem jeweils alterstypischen Risikoprofil. Viele werden dann auf der Intensivstation landen. Das überlastet die Intensivmedizin. Darum ist das akute Ziel, nicht zu viele Infektionen auf einmal zuzulassen. Die Delta-Variante hat leider die Eigenschaft, sich trotz der Impfung zu verbreiten. Nach zwei, drei Monaten beginnt der Verbreitungsschutz der Impfung zu sinken. Und wir haben ganz viele Menschen gerade in den relevanten Altersgruppen, die schon im Mai oder im Juni geimpft worden sind. Die verlieren jetzt allmählich ihren Verbreitungsschutz, und sie werden immer mehr. Wir haben eine Pandemie, zu der alle beitragen – auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger.
…
und empfiehlt auf dieser Basis Maßnahmen.
[1] LGL Coronavirus-Infektionszahlen in Bayern https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/infektionsschutz/infektionskrankheiten_a_z/coronavirus/karte_coronavirus/index.htm
[2] RKI Epidemologischen Bulletin 27/2021 https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/27_21.pdf?__blob=publicationFile
[3] Christian Drosten “Ich hoffe, dass man nicht wieder Schulen schließt” https://www.zeit.de/2021/46/christian-drosten-coronavirus-virologie-pandemie-wissenschaft-impfung/komplettansicht
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