Das Thema Corona Impfung wird im Moment hoch emotional behandelt.
Schlagworte wie Impfpflicht, Freiheiten für Geimpfte, Strafen für Impfverweigerer und soziale Verantwortung machen die Runde. Im Folgenden soll dargelegt werden, warum eine Herdenimmunität nicht erreichbar ist, Freiheiten für Geimpfte wenig Sinn machen, Kontaktverfolgung an Bedeutung verliert und welchen Stellenwert die Impfung dann noch besitzt
Grundlagen
Als Herdenimmunität wird in der Epidemiologie der indirekte Schutz vor einer ansteckenden Krankheit bezeichnet. Dieser entsteht, wenn ein genügend großer Anteil einer Population durch Infektion oder Impfung immun geworden ist und dadurch die weitere Ausbreitung des Erregers innerhalb der Population unterbleibt.[1]
Die Epidemiologie kennt für die Beschreibung der Ausbreitung eines Erregers zwei wichtige Kenngrößen
- Die Basisreproduktionszahl R0 gibt an, wie viele andere Personen ein Infizierter während seiner infektiösen Periode im Mittel ansteckt. Dabei wird davon ausgegangen, dass alle anderen Personen keine Immunität besitzen und auch keine weiteren die Ansteckung verhindernden Maßnahmen getroffen werden.
R0 ist damit ein Maß für die initiale Infektiosität eines Erregers.
Masernviren werden mit einem R0von 12-18, die ursprüngliche Variante des SARS-CoV-2 Virus mit 2-3 und die aktuelle SARS-CoV-2 Delta-Variante mit 6-8 angegeben.[2] - Die Nettoreproduktionszahl R gibt an, wie viele andere Personen ein Infizierter während seiner infektiösen Periode tatsächlich im Mittel ansteckt, wenn bereits teilweise Immunität besteht und ansteckungsverhindernde Maßnahmen in Kraft sind.
Die magische Grenze für R ist 1, liegt der R Wert darüber, breitet sich die Infektion nach dem SIR-Modell[3] exponentiell aus, bei niedrigeren Werten fallen die Inzidenzzahlen exponentiell ab. Bei R = 1 steckt ein Infizierter im Mittel einen anderen an, die Inzidenzzahlen stagnieren.
Zwischen R0 und dem Anteil ih immuner Individuen, ab dem Herdenimmunität eintritt, besteht ein Zusammenhang, es gilt
\[i_h=\frac{R_0-1}{R_0}=1-\frac{1}{R_0}\ \ \ \left(1\right)\]Die Formel lässt sich einfach anhand eines Beispiels verstehen. Gehenwir von R0 = 7 aus, dann steckt ein Infektiöser im Mittel 7 Personen an. Wenn von diesen im Mittel 6 bereits immun sind, bleibt im Mittel nur mehr ein Ansteckbarer übrig und wir landen bei stagnierenden Inzidenzzahlen oder in obiger Sprechweise einem R-Wert von 1. Damit müssen zum Erreichen von Herdenimmunität 6/7 oder 85.7% immun sein.
Die analoge Rechnung für das ursprüngliche SARS-CoV-2 Virus ergibt hier Herdenimmunität ab 66% Immunität in der Bevölkerung.
Immunität kann dabei sowohl durch überstandene Erkrankung als auch durch Impfung erworben werden. Für Erkrankungen, bei denen beiderlei Immunität nahezu 100%ig ist, beispielsweise Masern oder Röteln, liefert die Formel (1) aussagekräftige Ergebnisse und Herdenimmunitätisterreichbar.
Bei anderen Erkrankungen, insbesondere SARS-CoV-2, führen sowohl Impfung als auch überstandene Erkrankung zu einer Immunität, die deutlich weniger als 100%ig vor einer Neuinfektion schützt.
Impfstoffe haben eine Wirksamkeit bezüglich Infektionen. Diese wird in Zulassungsstudien ermittelt und berechnet sich als
\[s_i=\ 1\ -\ \frac{Inzidenz\ unter\ Geimpften}{Inzidenz\ unter\ Ungeimpften}\ \ \ \left(2\right)\]Geimpfte und Ungeimpfte stammen dabei aus gleich großen Kontrollgruppen.[4]
Bei einer Wirksamkeit von 90% ist also die Inzidenz unter Ungeimpften 10mal größer, als unter Geimpften.
Für SARS-CoV-2 Impfungen wird zusätzlich eine Wirksamkeit gegen schwere Verläufe analog als
\[s_s=\ 1\ -\ \frac{Inzidenz\ schwerer\ Verläufe\ unter\ Geimpften}{Inzidenz\ schwerer\ Verläufe\ unter\ Ungeimpften}\ \ \ \left(3\right)\]angegeben.
Um die Auswirkung von si auf die Herdenimmunität bei einer gegebenen Impfquote i zu verstehen, nehmen wir an, dass eine repräsentative Gruppe Geimpfter und Ungeimpfter dem Erreger ausgesetzt wird und berechnen zunächst den Anteil der Infizierten
\[\left(1-i\right)+i\left(1-s_i\right)=1-is_{i}\ \ \ \left(4\right)\]Der erste Summand sind dabei die Ungeimpften, wir gehen davon aus, dass sich diese alle infizieren.
Der zweite Summand sind die Geimpften, die sich vermindert um die Impfstoffwirksamkeit si anstecken.
Zum Erreichen von Herdenimmunität muss dieser Anteil kleiner als 1/R0 aus Formel (1) sein, also
\[1-is_i\le\ \frac{1}{R_0}\] \[i\geq\frac{R_0-1}{R_0s_i}\ \ \ \left(5\right)\]gelten. Die Berechnung der Impfquote für Herdenimmunität aus (1) wird also im Nenner durch die Wirksamkeit si korrigiert.
Weil die Impfquote i aber 100% oder 1 nicht übersteigen kann, gilt insbesondere auch
\[s_i\geq\frac{R_0-1}{R_0}\ \ \ \left(6\right)\]Um überhaupt Herdenimmunität erreichen zu können, muss also si einen Minimalwert haben, der sich rechnerisch aus der Basisreproduktionszahl R0 ergibt und den gleichen Wert wie ih in (1) hat, für R0 = 7 beispielsweise die bereits berechneten 85,7%.
Damit werden sich auch in der Gruppe der Geimpften Infizierte finden, deren Anteil an den Gesamtinfizierten qi sich als
\[q_i=\frac{i\left(1-s_i\right)}{\left(1-i\right)+i\left(1-s_i\right)}=i\frac{1-s_i}{1-is_i}\ \ \ \left(7\right)\]berechnen lässt und mit zunehmender Impfquote steigt.
Wenn wir die oben definierte Schutzwirkung gegen schwere Verläufe ss hinzunehmen, lassen sich die schweren Verläufe bei einer Impfquote i in Relation zu den schweren Verläufen ohne Impfung berechnen
\[q_s=\frac{\left(1-i\right)+i\left(1-s_s\right)}{1}=1-i\ s_s\ \ \ \left(8\right)\]Obige Formeln basieren auf einfacher Schulmathematik und sind zum Teil selbst hergeleitet. Epidemiologien können das sicher besser, haben jede Menge Korrekturfaktoren und feinere Berechnungsmethoden. Für die folgende grobe Abschätzung sollte es jedoch reichen.
Anwendung auf die aktuelle SARS-CoV-2 Situation
Die Bedeutung des R-Wertes
Die Berechnung von R basiert auf der zeitlichen Korrelation von Infektionszahlen und kann eigentlich nur rückwirkend erfolgen. Dass wir in der Corona Pandemie trotzdem täglich einen aktuellen R Wert in der Presse lesen können, verdanken wir einem Berechnungsmodell des RKI mit dem schönen Namen „Nowcasting“, wohinter sich ein prognostizierender Algorithmus verbirgt, der auch ein wenig Kaffeesatzleserei beinhaltet.[5]
Auffallend an der Entwicklung der R Werte ist, dass diese über lange Zeit und in verschiedenen Ländern stabil um die 1 herum schwanken. Das ist mit dem klassischen SIR-Modell nicht erklärbar, in diesem wäre die 1 ein instabiler Kippzustand, der sich schnell entweder in Richtung exponentielles Wachstum oder exponentielles Abfallen der Inzidenzwerte verändern würde.
Erklärt wird die Stabilisierung des R-Wertes oft mit der Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen.
Die Stabilisierung um die 1 wäre aber im SIR Modell nur durch „schnelles Stotterbremsen“ (Maßnahmen ein, Maßnahmen aus) erklärbar, welches in der Praxis nie stattgefunden hat.
Also scheint das SIR-Modell nicht zutreffen. Dieses setzt ja auch voraus, dass jedes Individuum in einer Population mit jedem anderen in Kontakt steht, was für einen Hühnerstall, nicht aber für unsere Gesellschaft gilt.
Es gibt interessante Erklärungsansätze, die die Stabilisierung auf eine natürliche Bremse in Form von Clustergrenzen bei Wahrung von Maximalkontaktdichten zurückführen, diese finden aber in der öffentlichen Diskussion wenig Beachtung. [6]
Auswirkungen der Impfstoffwirksamkeit
Die Wirksamkeit si der aktuellen SARS-CoV-2 Impfstoffe wird je nach Impfstoff und Virusvariante mit 50% bis 95% angegeben und liegt damit deutlich unter 100%. Während die ursprünglichen Wirksamkeiten der zugelassen Impfstoffe in den Zulassungsstudien noch zwischen 70 und 95% lagen[7], werden in aktuellen israelischen und britischen Studien in Bezug auf die aktuelle Delta-Variante nur noch Wirksamkeiten gegen Infektion zwischen 50% und 70% angegeben (bei gleichzeitig immer noch >=90%iger Wirksamkeit gegen schwere Verläufe).[8]
Wenn die Delta-Variante wirklich ein R0 von 7 haben sollte, ist gemäß Formel (6) eine Herdenimmunität ganz unabhängig von der Impfquote nicht erreichbar, hierzu wäre, wie oben berechnet, eine Schutzwirkung von minimal 85.7% bei einer Impfquote von 100%(!) erforderlich.
Erschwerend hinzu kommt, dass ein Abnehmen der Schutzwirkung im Zeitverlauf zu erwarten ist, ohne dass hierzu offenbar belastbare Ergebnisse vorliegen.
Weiterhin ist aufgrund der „relativ schlechten“ Impfwirkung davon auszugehen, dass die Anzahl der geimpften Infizierten mit steigender Impfquote deutlich ansteigen wird. Formel (7) liefert hierzu folgendes Ergebnis
Anteil geimpfter Infizierter qi | Impfquote i | ||||||||
Wirksamkeit si | 40% | 50% | 60% | 70% | 80% | 85% | 90% | 95% | 100% |
50% | 25% | 33% | 43% | 54% | 67% | 74% | 82% | 90% | 100% |
60% | 21% | 29% | 38% | 48% | 62% | 69% | 78% | 88% | 100% |
70% | 17% | 23% | 31% | 41% | 55% | 63% | 73% | 85% | 100% |
Wir sollten also ab Impfquoten von 70 – 80% damit rechnen, dass mehr als die Hälfte der Infizierten geimpft ist.
Die Reduzierung der schweren Verläufe gemäß Formel (8) sähe so aus
Schwerer Verlauf qs | Impfquote i | ||||||||
Wirksamkeit ss | 40% | 50% | 60% | 70% | 80% | 85% | 90% | 95% | 100% |
85% | 66% | 58% | 49% | 41% | 32% | 28% | 24% | 19% | 15% |
90% | 64% | 55% | 46% | 37% | 28% | 24% | 19% | 15% | 10% |
95% | 62% | 53% | 43% | 34% | 24% | 19% | 15% | 10% | 5% |
Eine deutliche Reduzierung ließe sich bereits durch vergleichsweise niedrige Impfraten erreichen.
Bei 70% Impfquote mit einer Wirksamkeit von 95% gegen schwere Verläufe ergäbe sich rechnerisch etwa eine Drittelung derselben.
In die Impfquote i müssen auch die genesenen Infizierten einbezogen werden.
Bei aktuell 3.75 Millionen bestätigten Fällen und einer Dunkelziffer von 2-3 [9] entspräche dies einer Erhöhung der „faktischen“ Impfquote um 10-14%. Ein in Kauf genommenes „Durchinfizieren“ der nicht impfbaren Kinder unter 12 würde die Impfquote um weitere 12% steigern, genauso wie Infektionen nicht geimpfter Jugendlicher und Erwachsener selbige steigern würden.
Schwere Verläufe sind offenbar stark altersabhängig. Für die Berechnung der tatsächlichen Entwicklung der schweren Verläufe ist also hauptsächlich die Impfquote in der über 60jährigen Bevölkerung entscheidend. Insbesondere dürften Impfungen bei Kindern und Jugendlichen zur Reduzierung der schweren Verläufe kaum beitragen.
Sehen wir uns nun an, wie sich Freiheiten für Geimpfte auswirken.
Hierzu veranstalten wir fiktiv ein Großevent mit 100000 Teilnehmern bei einer Inzidenz von 100, einer Impfquote von 70% und einer Impfstoffwirksamkeit gegen Infektion si von 60%. Wir nehmen an, dass die Teilnehmer einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt abbilden, was je nach Eventcharakter eine unter Umständen fragwürdige Annahme ist. Damit dürfen wir von 100 infizierten Teilnehmern ausgehen, die sich gemäß obiger qi-Tabelle in 48 Geimpfte und 52 Ungeimpfte aufteilen. Für den Fall, dass wir nur geimpfte Teilnehmer einlassen, brauchen wir noch die Inzidenz unter Geimpften, diese beträgt 48/70000 = 69/100000 und ist damit erwartungsgemäß niedriger als die Gesamtinzidenz. Weiterhin haben wir die Möglichkeit, bei der Eingangskontrolle einen Schnelltest durchzuführen, dem wir eine Sensitivität von 60% zubilligen. [10]
Uns interessiert die Anzahl der eingelassenen, infizierten Teilnehmer bei verschiedenen Zugangsmodalitäten und deren Aufteilung auf Geimpfte und Ungeimpfte:
Variante | Zugangskontrolle | Geimpfte Infizierte | Ungeimpfte Infizierte | Infizierte Teilnehmer |
I | Alle dürfen rein, kein Test, alles offen Szenario | 48 | 52 | 100 |
II | Alle dürfen rein, Test nur für Ungeimpfte | 48 | 52 * 0.4 = 21 | 69 |
III | Einlass nur für Geimpfte, kein Test | 69 | 0 | 69 |
IV | Alle dürfen rein, Test für alle | 48 * 0.4 = 19 | 52 * 0.4 = 21 | 40 |
V | Einlass nur für Geimpfte, mit Test | 69 * 0.4 = 28 | 0 | 28 |
VI | Veranstaltung wird abgesagt, Lockdown Szenario | 0 | 0 | 0 |
In der politischen Diskussion werden im Moment hauptsächlich die Varianten II und III genannt, beide liegen gleichauf und sind überraschend ineffektiv.
Die Varianten IV und V wären wesentlich effizienter und lägen im Ergebnis gar nicht so weit auseinander, mit zunehmender Impfquote würde zudem der Unterschied schrumpfen.
Den Varianten III und V ist zuzubilligen, das hier die Geimpften unter sich blieben, also weniger schwere Krankheitsverläufe zu erwarten wären. Das gilt aber nur „initial“ und ändert sich spätestens, wenn die geimpften Neuinfizierten dann nachhause gehen.
Die hier durchgeführten Berechnungen liefern zum Teil überraschende Ergebnisse.
Das war zu erwarten, wie Gero von Randow treffend sagt „Die hellsten Köpfe scheitern, wenn es um Wahrscheinlichkeiten geht; unser Denken ist auf sie nicht eingestellt“ [11]
Fazit
Herdenimmunität
Herdenimmunität scheint für die Delta-Variante rein aufgrund der Wirksamkeit der verfügbaren Impfstoffe gar nicht oder nur bei unrealistisch hohen Impfquoten von mehr als 95% der Gesamtbevölkerung erreichbar zu sein. Wenn dem so ist, sollte das auch klar kommuniziert werden.
Alles andere führ bei der aktuell hitzigen Diskussion zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft.
Freiheiten für Geimpfte
Freiheiten für Geimpfte stellen bestenfalls einen Impfanreiz dar.
Mit steigender Impfquote wird bald ein Großteil der Infizierten geimpft sein.
Wenn dann Coronatests trotzdem weiterhin für nötig erachtet werden, sollten diese nicht mehr auf Ungeimpfte beschränkt bleiben. Vor diesem Hintergrund wiederum ist zu überlegen, ob es redlich ist, Impfunwillige mit dem Versprechen von mehr Freiheiten zur Impfung zu ködern, wenn dieses dann in absehbarer Zeit kippen könnte.
Notwendigkeit weiterer Infektionsschutzmaßnahmen
Wenn weiterhin der Zusammenbruch des Gesundheitssystems durch Begrenzung der Inzidenzzahlen verhindert werden soll, dürfen wir uns im kommenden Herbst aufgrund des Impffortschritts wohl mindestens drei- bis viermal so viel Inzidenz „leisten“ wie im letzten Herbst, viel mehr wahrscheinlich nicht. In Deutschland lag im Dezember 2020 die höchste Corona-Auslastung der Intensivstationen bei 27% bei einer Inzidenz von rund 210. Stellen wir also den Inzidenzwert 1000 in den Raum, das sollte in jedem Fall gehen.
Möglicherweise werden trotzdem wieder Infektionsschutzmaßnahmen nötig.
Ob diese wieder staatlich verordnet oder (wie als „Pilotprojekt“ in England) mit Vernunft freiwillig zu leisten sind, bleibt die große Frage und müsste politisch entschieden werden. Es dürfte schwer werden, von einer „Verordnungskultur“ zu einer „Vernunftkultur“ zu wechseln, die Gesellschaft ist tief gespalten in Besorgte und Sorglose.[12]
Kontaktverfolgung
Die bisher verhängten staatlichen Zwangsmaßnahmen waren an maximale Inzidenzwerte gekoppelt, die magische Grenze von 50 resultierte nach offiziellen Angaben aus der Kapazität der Gesundheitsämter zur Nachverfolgung von Infektionsketten. Neue Maximalinzidenzwerte müssten aufgrund fortschreitender Immunität in jedem Fall deutlich höher sein.
Damit kippt zwangläufig das Konzept Nachverfolgung in großen Teilen, die aufwendige und nicht immer datenschutzkonforme Erhebung von Kontaktdaten wird fragwürdig.
Bedeutung der Impfung
Dass inzwischen gut wirksame Impfungen gegen Corona zur Verfügung stehen, ist fantastisch und gar nicht hoch genug zu bewerten. Wenn mit diesen aber eine „Herdenimmunität“ prinzipiell nicht zu erreichen ist, sollte dies Auswirkung auf deren Bewertung haben.
Die Impfung wird damit zu einem absolut sinnvollen, aber letztlich egoistischen Beitrag zum Selbstschutz. Impfen ist ohne Aussicht auf Herdenimmunität keine Leistung für die Gesellschaft oder Bürgerpflicht, wie es im Moment von vielen Seiten dargestellt wird. Es gibt dann kein „ich tu’s für …“, sondern nur ein „ich tu’s für mich“. Ein Verweigern der Impfung bleibt legitim.
Daran sollte sich auch die Einstellung gegenüber der Impfung von Kindern und Jugendlichen messen, insbesondere sie müssen mit der Impfung keinen Beitrag für die Allgemeinheit leisten. Hier sollte die Risikoabwägung im Vordergrund stehen, so wie das im Moment auch die STIKO sagt.[13]
Die oft öffentlich geäußerte Aussage, es gäbe nur die Alternativen Impfen oder Erkranken ist so nicht richtig. Es existieren wirksame Selbstschutzmaßnahmen, beispielsweise in Form von Masken und Abstandhalten. Diese werden ohne Herdenimmunität für nicht impfbare Bevölkerungsgruppen auf längere Zeit die einzige Alternative darstellen, wenn bei hohen Inzidenzzahlen trotz hoher Impfquoten der Großteil der Ansteckungen dann durch Geimpfte erfolgt.
Im Moment wird in Zusammenhang mit der Impfung viel über die Vermeidung von Long-COVID diskutiert. Dabei ist die Datenlage zur Wirkung der Impfung spezifisch gegen Long-COVID offenbar eher unklar und es nicht selbstverständlich, eine solche zu erwarten.
Müssen, Dürfen und Wollen in Zeiten des Krieges
Es sieht im Moment so aus, als bedeuteten die zur Verfügung stehenden Impfungen nicht das erhoffte Ende der Corona Pandemie, sondern nur einen weiteren (großen) Baustein auf dem Weg in die Normalität. Keiner der zur Verfügung stehenden Bausteine ist perfekt, keiner reicht allein aus, keiner ist zwingend notwendig und kann möglicherweise durch andere Bausteine ersetzt werden.
Vor diesem Hintergrund sind einzelne Maßnahmen, die politisch als „zwingend“ dargestellt werden, dies gar nicht, beispielsweise Schulschließungen im Grundschulbereich. Andere Länder, namentlich Schweden, die Schweiz und Frankreich sind gut ohne diese spezielle Maßnahme ausgekommen.[14]
Politik und öffentliche Berichterstattung sollten in Bezug auf Corona wegkommen vom „nicht dürfen“ und „müssen“ hin zum „wollen“. Dazu sollte zunächst der „Kampf gegen Corona“ mitsamt dem irrsinnigerweise ausgerufenen Kriegszustand [15] beendet werden. Damit wäre der Krieg aber verloren, was allen Kriegern wohl sehr, sehr weh täte.
Corona würde dann zu dem werden, was es wohl ist, eine weitere grippeähnliche Erkrankung, die mit der Zeit endemisch und zur Kinderkrankheit werden wird [16]. Auf dem Weg dahin und auch in der Folgezeit wird sie noch viele Todesopfer fordern. „Gezählt wird am Schluss“, wie der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell das einmal ganz am Anfang in einem Interview formuliert hat.
„Wollen“ braucht Ziele, diese wurden in der gesamten Corona-Diskussion nie klar formuliert, mit Ausnahme des „kleinsten gemeinsamen Nenners“, einen Kollaps des Gesundheitssystems zu vermeiden. Leben zu retten darf kein Ziel sein, Leben sind letztendlich nicht rettbar, wir kommen alle aus diesem Jammertal nicht lebend raus. Lebensjahre zu retten durchaus, das ist aber etwas grundlegend anderes und kein spitzfindiger, kleiner Unterschied.
Wenn der Weg weiterhin staatliche Zwangsmaßnahmen sein sollen, müssen diese mit grundlegenden Freiheitsrechten vereinbar sein und sich messen an den zu erwartenden Kollateralschäden, hier haben wir in den letzten 18 Monaten viel Erfahrung gesammelt und Lasten sehr ungleich verteilt, wir brauchen mehr Gerechtigkeit. Maßnahmen müssen auch nachhaltig finanzierbar und langfristig durchhaltbar sein.
Wir fahren inzwischen nicht mehr „auf Sicht“, wie Herr Söder das zu Beginn schön formuliert hat.
Wir haben aber auch einen langen, weiten Weg hinter uns, der von politischer Seite immer als viel kürzer dargestellt wurde. [17] Wer einen Langstreckenlauf als Sprint beginnt, wird irgendwann müde.
In diesem Zustand der Müdigkeit gibt es zwei richtig dumme Sätze, die ich nicht mehr ohne physische Schmerzen hören kann: „Bleiben sie gesund“ und „Wir dürfen nicht aufs Spiel setzen, was wir erreicht haben“.
Der englische Weg, jetzt die Verantwortung an die Bürger zurückzugeben, hat eine einfache, nachvollziehbare Logik. Mehr als die Impfung wird nicht kommen, Corona wird bleiben und wir werden lernen müssen, damit zu leben. England ist diesen Weg bei einer Impfquote von rund 70% vorausgegangen, von der wir im Moment noch etwas entfernt sind.
Ob er sich bewährt, wird sich zeigen.
Zum Schluss ein persönliches Statement um nicht in der falschen Ecke zu stehen (wie etwa die in den Fußnoten zitierte, arme Frau Fehr, die auf öffentlichen Druck hin ihren schon lange Jahre bestehenden Blog fehr-denkt-quer umbenennen musste):
Ich selbst bin 54 Jahre alt und geimpft, zweifach mit AstraZeneca, ohne besondere Risikofaktoren zu haben. Ich würde diese Entscheidung zum gegenwärtigen Stand wieder treffen, einfach aufgrund der damit verbundenen Risikoreduzierung, aus persönlicher Verantwortung und Verantwortung für meine Familie. Jeder, der sich nach bewusster Abwägung anders entscheidet, hat meinen vollen Respekt.[18]
Einer Impfung meines neunjährigen Sohnes stehe ich momentan tendenziell ablehnend gegenüber und harre geduldig zunächst der Impfzulassung und der dann kommenden Empfehlung der STIKO, der ich mehr vertraue als mancher (und umgekehrt ich manchem) Politik-Corona-Krieger.
Scheuer, den 25.07.2021
[1] Definition Herdenimmunität https://de.wikipedia.org/wiki/Herdenimmunit%C3%A4t
[2] Basisreproduktionszahl und Nettoreproduktionszahl https://de.wikipedia.org/wiki/Basisreproduktionszahl
[3] SIR-Modell https://de.wikipedia.org/wiki/SIR-Modell
[4] Impfstoffwirksamkeit https://de.wikipedia.org/wiki/Impfstoffwirksamkeit
[5] Nowcasting https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/Nowcasting.html
[6] Thurner, Klimek, Hanel 2020 , A network-based explanation of why most COVID-19 infection curves are linear
https://www.pnas.org/content/117/37/22684
[7] RKI Impstoffwirksamkeit https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Wirksamkeit.html
[8] Ärzteblatt, Delta-Variante in Israel und Großbritannien https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/125340/Israel-und-Grossbritannien-Delta-Variante-trotz-hoher-Impfquote-nicht-zu-bremsen
[9] RKI, Empidemologischer Steckbrief – Untererfassung https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888#un
[10] Drosten, Schnelltests sind wohl weniger zuverlässig als gedacht https://www.ndr.de/nachrichten/info/Drosten-Schnelltests-sind-wohl-weniger-zuverlaessig-als-gedacht,coronavirusupdate178.html
[11] Gero von Randow, Das Ziegenproblem – Denken in Wahrscheinlichkeiten, rororo, Neuauflage 2004
[12] Jaqueline Fehr, Wir brauchen Zwischentöne https://jacqueline-fehr.blog/wir-brauchen-zwischentoene/
[13] RKI, STIKO Empfehlung zur Impfung von Kindern und Jugendlichen
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/ImpfungenAZ/COVID-19/Infoblatt_Impfung_Kinder_und_Jugendliche.html
[14] Zeit Online, Doch die Schulen bleiben offen https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2021-02/schule-corona-schweden-schweiz-daenemark-praesenzunterricht-grundschule
[15] Youtube, Macron, Nous sommes en guerre https://www.youtube.com/watch?v=5wYyJckGrdc
[16] Drosten, Corona Virus wird endemisch https://www.ndr.de/nachrichten/info/Drosten-im-Corona-Podcast-zu-Impfung-Sind-nicht-mehr-so-wehrlos,coronavirusupdate188.html
[17] Markus Söder, April 2020 „wir sind in der 80ten Minute eines Fußballspiels“
https://www.evangelisch.de/inhalte/169531/30-04-2020/soeder-nicht-der-80-minute-vom-spielfeld-gehen
[18] Tagesschau, Aiwanger, Der Ungeimpfte https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/aiwanger-impfen-101.html
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